Ayan kniet im Sand, die Hände tief in den Boden gegraben. „Wir spielen Hände dreckig machen“, erklärt sie der Erzieherin strahlend. Dann widmet sich die Sechsjährige wieder dem Sand und ihren Freundinnen – eine stammt aus Syrien, eine aus Afghanistan. 65 Kinder besuchen die Kita „Am Wall“, jedes vierte ist mit seiner Familie nach Deutschland geflohen.
Ein hartes Stück Arbeit
Die Kita liegt im Zentrum von Alzey, einer kleinen Stadt in Rheinland-Pfalz. Vor zwei Jahren kamen innerhalb kürzester Zeit zwölf Flüchtlingskinder in die Einrichtung, weitere folgten. Die Kita stand damit vor einer großen Herausforderung. Die Arbeit in den Gruppen veränderte sich, genauso die Zusammenarbeit mit den Eltern. „Inzwischen funktioniert das richtig gut“, sagt Dennis Drippe, Leiter der evangelischen Kita. „Das war aber ein hartes Stück Arbeit, wir mussten da erst reinwachsen.“ Für ihn gibt es drei ganz wesentliche Faktoren für den Erfolg: Offenheit gegenüber Neuem, die sichtbare Wertschätzung von Vielfalt und den Abbau von Sprachbarrieren. „Natürlich funktioniert das nur, wenn das ganze Team eingebunden wird und mitzieht.“
Ayan ist eines der Flüchtlingskinder, die vor zwei Jahren „Am Wall“ ankamen. Sie stammt aus Aserbaidschan, ihre Muttersprache Azeri spricht hier niemand. „Am Anfang war das sehr schwierig“, erinnert sich Christiane Fell, ihre Bezugserzieherin. Ayan war sehr aggressiv, hat oft geschlagen, geschrien, geschubst. In dieser Phase widmeten die Erzieherinnen dem Mädchen besonders viel Zeit. Christiane Fell nahm Ayan an die Hand, um mit ihr das Frühstücksgeschirr aus dem Schrank zu holen. „Das ist ein Teller“, sagte sie und zeigte ihn dann. Viel reden mussten die Erzieherinnen auch mit den anderen Kindern, ihnen erklären, dass für Ayan vieles fremd und beängstigend ist. „Die Kinder verstehen, dass das Ayan wütend machen kann.“
Kurz
gesagt!
Wie die Integration von Flüchtlingskindern gelingen kann:
- Das gesamte Kita-Team sollte mitziehen
- Die Kooperation zwischen Eltern und pädagogischen Fachkräften ausbauen
- Externe Kompetenzen nutzen (z. B. Sprachförderkräfte, Dolmetschende)
- Zusätzliche finanzielle
Mittel von Träger, Land oder Bund abrufen
Einer der pädagogischen Schwerpunkte der Kita „Am Wall“ ist die Sprachförderung. Reime, Fingerspiele und angeleitete Gesprächsrunden sind fest in den Alltag eingebettet. Eine qualifizierte Sprachförderkraft arbeitet mit Kleingruppen. Manches wird auch mit Händen und Füßen geklärt. Gleichzeitig haben die Herkunftssprachen der Kinder ihren festen Platz. „Ihre Muttersprache ist die Basis dafür, dass die Kinder gut Deutsch lernen“, so Dennis Drippe. Schon im Morgenkreis wird „Guten Tag, guten Tag“ in allen in der Gruppe vertretenen Sprachen gesungen – 16 sind es in der gesamten Kita. Besonders den Flüchtlingskindern bietet das Lied ein Stückchen sprachliche Heimat und Wertschätzung. „Sie sind stolz, wenn sie uns die richtige Aussprache beibringen können“, berichtet Christiane Fell.
Sprachliche Barrieren abbauen
Etwa ein halbes Jahr verging, in dem Ayan zuerst langsam, dann immer schneller Deutsch lernte. „Heute muss sie nicht mehr schubsen, sondern kann: ,Lass das!‘ sagen“, erzählt Christiane Fell. Das Mädchen spricht nicht nur fließend Deutsch, sie kann sich mit ihren Freundinnen sogar auf Türkisch unterhalten. „Wir einigen uns je nach Situation auf die Sprache, die alle sprechen“, erklärt Christiane Fell. Beim Spiel im Sand kann das Türkisch sein, beim Essen am Tisch ist es Deutsch.
Die sprachlichen Barrieren werden in der Kita abgebaut – doch was ist mit Erfahrungen, die die Kinder auf der Flucht gemacht haben? „Meist wissen wir gar nicht, was die Kinder erlebt haben“, sagt Christiane Fell. Sie erlebt nur die Folgen: „Ein Kind versteckt sich bei lauten Geräuschen immer verängstigt in der Ecke.“ Dann nimmt sich die Erzieherin Zeit, versucht, das Kind wieder in den Alltag zurückzuholen, immer darauf bedacht, es nicht zu überfordern.
„Wir sind anfangs personell an unsere Grenzen gestoßen“, sagt Dennis Drippe. Auch in der Kita „Am Wall“ wollen und müssen die Erzieherinnen Zeit für alle Kinder haben – auch für jene ohne Fluchterfahrung. Schnell war klar: Die Arbeit ist nur mit zusätzlicher Unterstützung möglich. Seit vergangenem Jahr gehört ein Sozialarbeiter zum Team. Sergej Dmitriew arbeitet vor allem mit jenen Flüchtlingskindern und deren Familien, die besondere Aufmerksamkeit benötigen. In Kleingruppen geht er spielerisch auf sie ein und versucht, sie in die Gruppe zu integrieren.
Ein syrischer Bufti
Finanziert und fachlich begleitet wird die Stelle des Sozialarbeiters anteilig von der zuständigen Landeskirche, in diesem Fall die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau, und vom Landkreis. „Es lohnt sich, gezielt nach Unterstützung für die Flüchtlingsarbeit zu fragen“, so die Erfahrung von Dennis Drippe. Gute Ansprechpartner sind neben den Trägern beispielsweise die Jugendämter oder die zuständigen Ministerien auf Landes- und Bundesebene.
Auf diesem Weg konnte die Kita dieses Jahr auch einen ganz besonderen Bundesfreiwilligendienstleistenden (Bufdi) für sich gewinnen: Taufik Alsaaid stammt aus Syrien, ist selbst nach Deutschland geflohen. Durch den Dienst erhält der junge Flüchtling eine Möglichkeit, seine Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern. Die Kinder aus dem arabischsprachigen Raum wiederum haben jemand, der nicht nur die Fluchterfahrung teilt, sondern auch ihre Muttersprache spricht. Gefördert wird dieses Modell durch das Bundesfamilienministerium.
Stärkung der sozialen Kompetenzen
Die Zusammenarbeit mit den Eltern spielt eine besonders wichtige Rolle für die Integration der Flüchtlingskinder. „Je wohlgesonnener die Eltern der Kita sind, desto schneller und besser funktioniert es mit den Kindern“, das erlebt Christiane Fell täglich in ihrer Arbeit. Deshalb nimmt sich Kita-Leiter Dennis Drippe schon im Anmeldungsgespräch viel Zeit, um das Konzept der Kita zu erklären. Bei Bedarf ist ein Dolmetscher mit dabei – ebenso wie später bei den Entwicklungsgesprächen. Dafür stellt der Landkreis entsprechende Mittel zur Verfügung. „Weltoffenheit und Toleranz sind für uns zentrale Werte, die hier gelebt und den Kindern vermittelt werden.“ Ein deutliches Signal an die Eltern ist auch ein Begrüßungs-Pult im Flur: Auf ihm steht in 16 Sprachen „Willkommen“. Mit freundlichen Worten und einem offenen Ohr nimmt eine der Erzieherinnen hier jeden Morgen die Eltern und Kinder in Empfang. Weitere Elemente der Erziehungspartnerschaft sind gemeinsame Feste wie ein interkulturelles Picknick oder das weihnachtliche Krippenspiel.
Auch die Kita „Am Wall“ stößt immer wieder an ihre Grenzen. „Für uns alle, Erzieher, Kinder und Eltern ist die tägliche pädagogische Gestaltung und Weiterentwicklung eine Herausforderung“, sagt Dennis Drippe. Doch die Zeit zurückdrehen, eine Kita ohne Flüchtlingskinder? Das wünscht sich Christiane Fell trotz aller Herausforderungen nicht. „Die Gruppen haben einen anderen Zusammenhalt bekommen, die sozialen Kompetenzen aller Kinder werden gestärkt.“ Das hilft ihr auch bei ihrer Arbeit als Erzieherin. „Und ich profitiere als Mensch. Mein Blick hat sich geöffnet.“
Die gute pädagogische Arbeit der Kita „Am Wall“ hat sich in Alzey herumgesprochen. „Einige Eltern entscheiden sich mittlerweile bewusst für uns“, sagt Dennis Drippe. „Sie schätzen die Weltoffenheit und Vielfalt, die hier gelebt werden.“
WEITERE INFOS
Flüchtlingskinder haben wie alle Kinder in Deutschland einen Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz. Hier gibt es Informationen und Praxishilfen für Kitas:
www.fruehe-chancen.de/themen/integration
SERVICE DER DGUV
Informationen für Kitas und Schulen zum Thema Flüchtlinge hat die Deutschen Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV) auf folgender Seite zusammengestellt:
www.dguv.de/fluechtlinge