Hanna weint. Es ist 8:45 Uhr an einem Dienstag in der Kita „Maria Hilf“ in Wiesbaden. Die Mutter spricht beruhigend auf das Mädchen ein. „Wollen wir die Hausschuhe anziehen?“ „Nein!“ „Wollen wir den Rucksack aufhängen?“ Nein!“ „Wollen wir in die Gruppe gehen?“ „Nein!“ Alles unter Tränen.
Hanaa besucht seit zwei Wochen die katholische Kita; inzwischen ist sie täglich einige Stunden ohne ihre Mutter hier. Die Bezugserzieherin setzt sich zu den beiden in den Flur und signalisiert, dass sie „da ist“, sich Zeit für das Mädchen und die Mutter nimmt. Sie versucht, das Kind abzuholen: „Basteln wir gleich einen Stern?“ „Nein!“
Die Trennung am Morgen ist für Mutter und Kind noch immer eine Herausforderung. „Einfach gehen, ohne mich umzudrehen – das ist das Schwierigste“, sagt die Mutter. Doch mit einem entschiedenen Abschied kann sie dem Mädchen helfen. „Für die Kinder ist Klarheit ganz wichtig“, sagt Ulli Diederich. Dazu gehört auch das feste Wissen: Die Mutter geht jetzt und Hanaa bleibt mit den Erzieherinnen in der Kita.
Ulli Diederich ist gemeinsam mit ihrer Kollegin Paulina Heinrich für eine Gruppe mit 20 Kindern im Alter von drei bis sechs Jahren verantwortlich. Insgesamt werden in der Einrichtung 80 Kinder nach dem Situationsansatz betreut. Die Eingewöhnung erfolgt in Anlehnung an das Berliner Modell, allerdings mit gewissen Freiheiten. „Für uns stehen die Familie und das Kind im Mittelpunkt, wir schauen zuerst, was sie individuell brauchen“, sagt Illi Diederich.
Kurz
gesagt!
- Ein klarer Abschied der Eltern hilft dem Kind
- Feste Rituale geben Sicherheit
- Dem Kind Partizipation ermöglichen
- Regelmäßige Tür-und- Angel-Gespräche
Basis ist das Vertrauen der Eltern
Je besser die Eingewöhnung gelingt, so die Erfahrung der 58-Jährigen, desto besser verläuft später der Kita-Alltag für Kind, Eltern und pädagogische Fachkräfte. Basis für eine gute Eingewöhnung ist wiederum, dass die Eltern dem pädagogischen Fachpersonal vertrauen. „Das wirkt sich positiv auf das Kind aus“, so die Erzieherin. Deshalb vermittelt sie den Eltern von Anfang an die Botschaft: „Wir setzen alles daran, dass Ihr Kind und Sie sich bei uns wohlfühlen.“ Als erste vertrauensbildende Maßnahme dient ein ausführliches Erstgespräch mit den Eltern, gerne auch im häuslichen Umfeld der Familie. Dabei sollen möglichst viele Fragen geklärt und der Kita-Alltag transparent vermittelt werden.
Hanaa hat die Kita mit ihrer Mutter an einem Schnuppernachmittag in Ruhe kennengelernt. Erst dann begann die schrittweise Einführung in die Gruppe: an den ersten Tagen für etwa eine Stunde gemeinsam mit der Mutter. „Hanaas Mutter hat sich aktiv eingebracht“, erzählt Ulli Diederich. Sie habe vorgelesen und auch mit den anderen Kindern gespielt. „Dadurch hat sie für Hanaa eine Brücke zu den anderen Kindern gebaut.“ Das ist der optimale Fall.
Telefonische Erreichbarkeit
Wie lang diese gemeinsame Phase dauert, ist individuell unterschiedlich. Manchmal müssen die pädagogischen Fachkräfte die Eltern auch zum nächsten Schritt ermutigen. Ihnen sagen: Jetzt ist Ihr Kind so weit, jetzt können Sie gehen, wenn Sie möchten.
„Wie gut der Abschied klappt, hängt davon ab, wie gut Eltern loslassen können“, sagt Ulli Diederich. Eltern können sich dann so oft sie es brauchen telefonisch erkundigen, wie es an diesem Tag läuft.
Hanaa wird – wie inzwischen jeden Morgen – in der Gruppe von der Mutter an die Erzieherin übergeben. „Ich gehe jetzt einkaufen“, sagt die 34-Jährige zu ihrer Tochter. „Danach hole ich dich wieder ab.“ Ulli Diederich setzt sich mit dem Mädchen an den Tisch, gemeinsam basteln sie einen Stern. Das ist eines der festen Rituale, die Hanaa während der Eingewöhnung Halt geben. Genauso wie das gelbe Stoff-Einhorn, dass das Kind von Zuhause mitbringt. Zu den festen Ankern gehört auch ein Ordner, in dem Fotos der Familie, von Hanaas erstem Tag in der Kita und ein selbstgemaltes Bild der großen Schwester aufbewahrt werden. „Das Portfolio bildet eine Verbindung zwischen ihrem Zuhause und hier“, sagt Ulli Diederich. Immer wieder schaut sie mit dem Kind die Seiten an. Aber auch in den Gesprächen während des Kita-Vormittags ist die Herkunftsfamilie allgegenwärtig. Gemeinsam blättern die Kinder durch einen Atlas. „Schaut mal, das ist Marokko“, sagt die Erzieherin. „Von dort kommt Hanaas Papa. Das ist ein schönes Land.“ Immer wieder wird dem Mädchen gezeigt: Wir schätzen dich, deine Familie, das, was du mitbringst. Und Hanaa sagt: „Mama ist einkaufen.“
Enge Beziehung zu zwei Erzieherinnen
Ohne die Mutter in der Gruppe hat sie nach kurzer Zeit zu weinen aufgehört, aus den vielen Neins! wurde ein erstes „Ja“. Jetzt ist Hanaa ganz in der Gruppe angekommen. Sie zeigt Paulina Heinrich, ihrer zweiten Bezugserzieherin, ein Eichhörnchen, isst mit gutem Appetit beim Frühstück und spielt dann mit einem Jungen auf dem Boden Murmeln. „Hanaa öffnet sich schon und macht gerne auch mal Quatsch“, sagt Paulina Heinrich.
Hanaa hat in der Eingewöhnungsphase zwei Bezugserzieherinnen. „Hanaa hat zu uns beiden eine gute Beziehung und das ist wichtig, falls eine Kollegin ausfällt“, sagt Paulina Heinrich.
Das Kind kann selbst mitbestimmen
Partizipation wird in der Kita „Maria Hilf“ groß geschrieben – und in ersten Ansätzen schon während der Eingewöhnung umgesetzt. Hanaa beispielsweise putzt sich leidenschaftlich gern die Zähne. Wenn sie während des Vormittags, mit bereits blitzsauberen Zähnen Lust bekommt, zur Zahnbürste zu greifen, unterstützen sie die Erzieherinnen. So wird Hanaa in dem Gefühl bestärkt, dass sie in der Kita selber bestimmen und gestalten kann. „Hanaa weiß sehr genau, was sie will“, freut sich Ulli Diederich.
Für den guten Austausch mit den Eltern während der Eingewöhnung sorgen die zahlreichen Tür-und-Angel-Gespräche. Denn diese erleben ja nur das weinende Mädchen beim Bringen oder die strahlende Begrüßung beim Abholen. Deshalb berichten die Erzieherinnen von einem Splitter im Finger oder wie fröhlich das Kind heute mit anderen in der Puppenecke gespielt hat. Nach sechs Wochen Eingewöhnung findet ein ausführliches Gespräch mit den Eltern statt. „Wir haben festgestellt, dass für Hanaa feste Zeiten ganz wichtig sind“, erzählt Ulli Diederich. Deshalb wurde mit der Mutter in einem solchen Gespräch besprochen, dass die knapp Dreijährige jeden Tag zu festen Uhrzeiten g ebracht und geholt wird. Hanaas Mutter schätzt diesen Austausch: „Die Erzieherinnen holen einen da ab, wo man ist.“
Regelmäßiger Austausch über Probleme im Team
Nicht immer läuft es so reibungslos. Manchmal ist es schwieriger, das Kind oder die Eltern zu erreichen. „Dann fragen wir die Eltern: Was denken Sie, was dem Kind gut tut oder Ihnen beim Loslassen hilft?“, sagt Ulli Diederich. Es gibt aber auch Situationen, da reichen Elterngespräche nicht aus. „Ich habe schon Verhaltensauffälligkeiten erlebt, die ich nicht einordnen konnte“, erzählt die Erzieherin. Da haben die wöchentlichen Teambesprechungen geholfen, der Austausch mit den Kolleginnen und der Leitung. „Manchmal sehen andere mehr als man selbst.“ Wenn das auch nicht hilft, gibt es noch die Supervision. Aber das war in Verbindung mit einer Eingewöhnung bisher noch nicht erforderlich.
„Mama!“, jubelt Hanna inzwischen im Gruppenraum. Das Mädchen war mit den anderen Kindern so im Spiel versunken, dass es seine Mutter erst gar nicht bemerkt hat. Aber dann geht es stolz zusammen mit Mutter und Erzieherin zum Fenster: Dort hängt der Stern, den Hanna heute früh gebastelt hat.
WEITERE INFOS
Die Bindung zwischen Mutter und Kind kann einen Einfluss auf die Eingewöhnung in die Kita haben.
Nähere Infos zum Thema gibt es unter: www.kita-fachtexte.de